Luther Blissett
Zwei Anmerkungen zur situationistischen Ideologie
"...man braucht keine Rücksicht auf Leute zu nehmen, die nicht davor zurückscheuten, sich "hart" zu geben und die ihre eigene Ehrbarkeit maßlos aufgeblasen haben. Sie haben damit ihr Publikum derart benommen gemacht, bis dieses vom situationistischen Image so eingeschüchtert war, daß es keinen Zweifel mehr zu äußern oder keine Beobachtung mehr zu machen wagte. All diejenigen, die mit der Situationistischen Internationale Umgang hatten oder an ihr teilgenommen haben, wissen, daß die wirklich existierenden Beziehungen gegenüber deren Darstellung abfielen..."
Dominique Blanc, Die Situationistische Internationale und ihre Zeit.
Mit dem Dokument "Die Wirkliche Spaltung in der Internationalen" lösten Guy Debord und Gianfranco Sanguinetti 1972 die Situationistische Internationale auf. Dabei handelte es sich um eine Entwendung des "Vertraulichen Zirkulars" des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation aus dem Jahr 1872, das mit " Die angeblichen Spaltungen in der Internationale" überschrieben war.1) Dies war fraglos eine Inszenierung, eine bittere Jahrhundertfeier der internationalen Arbeiterbewegung - eine Feier der Spaltung ihrer radikalen Kritik in zwei ungleiche Ideologien - , die eine Gelegenheit bot, sich ein für alle mal der Verantwortung für eine revolutionäre Organisation zu entziehen, die in aller Welt die Erwartungen Tausender radikaler Jugendlicher genährt hatte und die nicht mehr imstande war, das Bild, das sie von sich verbreitet hatte, aufrecht zu erhalten, nämlich "der konzentrierte Ausdruck einer geschichtlichen Subversion zu sein, die überall ist (S.10)." Sie verschwand nun offiziell, doch informell bestand sie tatsächlich schon seit etlichen Jahren nicht mehr. An die drei Jahre zuvor in Venedig abgehaltene Konferenz wurde folgendermaßen erinnert: "Die Situationisten waren achtzehn an der Zahl, aber sie hatten den Geist von vieren (S.105)." An ihrem Ende rückte die S.I. somit all das, was einst direkt gelebt wurde, in eine Repräsentation. Sie war also zu einem Spektakel geworden, zu einer eingebildeten, nachzuahmenden Lebenskunst, zu einem Reklameversprechen "authentischen Glücks" für eine künftige Zielgruppe: Die kleinen und mittleren Führungskräfte, "die Metamorphose des städtischen Kleinbürgertums unabhängiger Produzenten, das lohnabhängig geworden ist (Debord-Sanguinetti. S.71)." Eine etwas genauere Beschreibung jener von kreativen und aristokratischen Bestrebungen beseelten Fraktion der Mittelschichten, die voller Ressentiment gegen ihre eigene kleinbürgerliche Herkunft ist, finden wir, eher noch als im Text von Debord und Sanguinetti, in einer soziologischen Studie von Henri Lefebvre.2) Er nannte sie eine "außerhalb der Macht stehende Elite". Hier ein wirklich erhellender Abschnitt: "Der radikalen Negation, Beginn und Versprechen einer Aufhebung, hat sich eine aus den Mittelschichten hervorgegangene Elite verschrieben,... die zumeist keine Verbindung, wenn nicht gar eine schlechte, zur "Machtelite", d.h. zum Establishment hat... Sie hat einige "Handbücher der Lebenskunst" zum Eigenbedarf hervorgebracht. Sie erfaßt die Beschränkungen der bürgerlichen Gesellschaft, der kapitalistischen (oder sozialistischen) Produktionsweise, des Etatismus. Diese Beschränkungen bilden nicht nur ein Hindernis für die Freiheit, bieten nicht nur den schöpferischen Fähigkeiten Einhalt. Sie sperren das Vergnügen, den Körper, das Denken selbst in den Käfig. Sobald es jener Elite gelingt, solche Schranken wahrzunehmen, läßt sie sich dessen ungeachtet darauf nieder und möchte sie vergeblich überschreiten: Sie postiert (situiert) sich auf der Grenze zwischen dem Bestehenden und dem Anderen, und dies ist ziemlich glücklich in dem von einigen Angehörigen einer superelitären Sekte verwendeten Begriff Situationismus zum Ausdruck gebracht...Der Lebensstil der Studentenjahre generalisiert sich und erreicht durch den Kanal der Elite einen Teil der Mittelschichten (in traditionellen Begriffen: das Kleinbürgertum). Und somit verbreiten sich eine Ideologie des Sex und der Sexualität, die Jagd nach Vergnügen und Zerstreuung, nach der scheinbaren oder wirklichen Fete, plus einer gewissen Freiheit im Gebrauch der Zeit...Es vollzog sich, und dies vollzieht sich auch weiterhin, eine Spaltung zwischen denen, die nach Art der Studenten eine solche Lebensweise annehmen und so den Alltag negieren, und denen, die einem solchen Modell aus Mangel an Geld, Zeit oder Kultur nicht folgen können. Letztere neigen nun zu reaktionären Haltungen, während der andere Bereich der Mittelschichten sich subversiv dünkt. In beiden Fällen zeigen sich rasch die Schranken und alle gleiten in dasselbe Loch - den Nihilismus. Weder die einen, noch die anderen vermögen, das Leben zu ändern, sie wechseln nur die Darstellungen des Lebens...Die Elite besitzt ein Monopol auf das kritische Bewußtsein...doch das Nein, das sie zur Macht spricht, ist meist ein zweideutiges Nein, das eigentlich Ja sagen will...Sie entgeht nicht der mit Geld verbundenen Nostalgie der Macht, des Erfolgs, des Ruhms, obschon sie zugleich die Kritik jener Macht so weit wie möglich treibt." Im Nachhinein erweisen sich die akademischen Analysen von Lefebvre viel genauer als die der Situationisten. Für ihn war die "außerhalb der Macht stehende Elite" dazu bestimmt, in einem perversen Spiel mit der Machtelite auf einem ausreichend hohen Niveau (ökonomisch, politisch, intellektuell) kooptiert und integriert zu werden (die typische, postmoderne Dynamik: "umso mehr ich dich kritisiere, dich skandalisiere, dich treffe, desto mehr verlocke ich dich"), einem Spiel, bei dem auf jeden Fall nur der "Staatslogos" gewinnen kann. Für die Situationisten hingegen war es manchen beschieden, Führungskräfte zu werden, während den meisten vorbehalten blieb, schlecht bezahlte Arbeiter zu sein. Heute hat die außerhalb der Macht stehende Elite die am meisten fortgeschrittenen Sektoren der Industrie des Spektakels in der Hand und stimmt ideologisch mit den antistaatlichen Neokapitalisten überein!
Es muß, gehen wir wieder einige Schritte in die Vergangenheit zurück, betont werden, daß die elende Verfassung der S.I. und ihrer Theorie bereits den eigenen Protagonisten sehr deutlich war: "Ich schlage vor, die gesamte modernistische Ideologie en bloc Situationismus zu nennen (R. Vaneigem, '69)." "Diese Richtung will vollständig mit der Ideologie der S.I. brechen...von nun an behalten wir uns das Recht vor, unsere Positionen außerhalb der S.I. bekannt zu machen (so die spalterische Richtung: Guy Debord-René Riesel-René Viénet 1970)". Wenn sich die Situationistische Internationale nicht schon vor 1972 aufgelöst hat, wenn sie zuletzt an den Punkt gelangte, lachhaft aus drei einsamen Vertretern zu bestehen (Debord, Sanguinetti, Martin), dann nur deswegen, um die Inszenierung der Hundertjahrfeier zu realisieren. In anderen Worten: Man hat versucht, die Selbstauflösung auf spektakuläre Weise nicht so sehr mit der Geschichte der ästhetischen oder kulturellen Avantgarden, aus denen man hervorgegangen war, zu verbinden, sondern stattdessen mit der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung. In seiner Rücktrittserklärung schrieb Vaneigem in der Polemik mit der "Spalterrichtung" Debords: "Wie konnte sich das, was an Leidenschaftlichkeit in dem Bewußtsein eines gemeinsamen Projekts vorhanden war, in ein Unbehagen verwandeln, zusammen zu sein?...Zudem wäre die leichte Analyse der geringen Durchsetzung der situationistischen Theorie im Arbeitermilieu und der geringen Durchsetzung der Arbeiter im situationistischen Milieu augenblicklich lediglich ein Vorwand für das falsche gute Gewissen unseres Scheiterns (S.144)." Statt diesen Aspekt zu vertiefen, ziehen es Debord und Sanguinetti in der "Wirklichen Spaltung..." vor, die Schuld am Scheitern der S.I. voreilig den Prositus zu geben, denen also, die, ihres Erachtens, abstrakt und kontemplativ der situationistischen Radikalität zustimmen, ohne es zu verstehen, diese auch in die Praxis umzusetzen oder gar auf originelle Weise subjektiv anzuwenden. Doch der Grund für das Scheitern der S.I. muß in Wahrheit innerhalb der S.I. selbst gesucht werden, in dem Umstand, daß die Verbreitung ihrer Theorie von ihr selbst im wesentlichen auf ebendieses Milieu der Prositus beschränkt wurde, jenes Milieu der Studenten in blousons noir, der verkrachten Künstler und Lumpenintellektuellen, das sie mehr als alles andere verachtet hat und das ein beträchtlicher Teil der "Elite außerhalb der Macht" war. Einer der historischen Gammler der Stadt Rom, Giovanni, in den sechziger Jahren Student in Paris und 1968 Prositu, hat uns einmal erzählt, wie er in seiner Jugend dazu kam, Guy Debord und dessen Anhang kennenzulernen und wie er sich in der Folge dessen Lebensstil annäherte: Debord verkaufte seine Zeitschriften regelmäßig am Ausgang der Universität! Viele Mitglieder der S.I. kamen, ungeachtet der aufgeblasenen Vorstellung, die sie von sich selbst hatten, von dort, und die Uni blieb ihr Zielfeld. Wie der Kommunist Dominique Blanc geschrieben hat: "So wie der Prositu, kraft der Einwirkung des zum Heiligen Geist gewordenen Bewußtseins der Geschichte (also der zur Voraussetzung eines höheren revolutionären, göttlichen Bewußtseins gewordenen situationistischen Theorie) meint, sich über das eigene Elend zu erheben, so wähnt sich die S.I. über jene Prositus erhaben. Sie stellt ihnen "Tausende revolutionärer" Situationisten gegenüber, ohne zu merken, daß es sich um dieselben Personen, nur von hinten gesehen, handelt." Der Grund für das Scheitern der S.I. ist, daß sie vollständig die Praxis der "Konstruktion von Situationen" aufgegeben hat, ihren postkünstlerischen Geist, das Vergnügen zusammen zu sein, um eine eher mit einer Verpflichtung anstelle einer Lebenskunst ausgestattete "hyperpolitische" Gruppe zu werden - im Rang von Trägern der am weitesten fortgeschrittenen operaistischen Theorie der Welt. Jedoch ohne imstande zu sein, diese Theorie auch zu verwirklichen, sie in der Praxis umzusetzen und ohne sich darum zu scheren, irgendeine reale Verbindung und somit eine reale Gefolgschaft in der autonomen Arbeiterbewegung zu haben. Dort, wo später tatsächlich Überbleibsel der situationischen Theorie unter den Arbeitern auftauchten, geschah dies gerade dank der Aktivität jener Revolutionäre (von hinten gesehen ), 3) die diese in den aus Arbeitern und Studenten gebildeten Gruppen - etwa die Lega degli Operai e degli Studenti in Genua und der CUB Pirelli 1968 in Mailand 4)) verbreitet haben. In Wirklichkeit waren sie viel passiver als ihre Jünger, auch deshalb, weil oft ihre Jünger alles andere als passiv waren. Und gerade wegen dieses Mangels ist es möglich gewesen, daß die situationistische Ideologie, daß der "Situationismus", der mit anderen Worten nichts weiter ist als eine ästhetische Theorie sowie eine Theorie der modernistischen Kommunikation, die umso verführerischer ist, je mehr diese von dem radikalen Lumpenpack des Operaismus gesäubert ist, zur Weltanschauung par excellence der Elite außerhalb der Macht werden konnte, einer Weltanschauung, die möglicherweise jederzeit von irgendeiner genauso extremen, doch sicherlich diplomatischeren postmodernen Theorie ersetzt werden kann. Man weiß zum Beispiel, daß sich Freccero, Ricci, Ghezzi und Konsorten 5) als Situationisten outen, doch im seltensten Fall sieht man auch ein, daß dies im tiefsten Kern wahr ist, da sie nichts anderes sind als die Avantgarde eines zu sich selbst gekommenen Spektakels. Mit der spektakulären Niederlage der internationalen Arbeiterbewegung, der situationistischen Bewegung, sind sie dessen intellektuelles selbstkritisches Bewußtsein, eine ideologische Ausgabe der harmlosen und für die herrschende Klasse heilsamen Verneinung, die auf dieselbe Weise wirkt wie der abgeschwächte Virus bei der Pockenschutzimpfung. Sie sind das Avantspektakel. Die situationistische Ideologie ist heute, wie kurz und bündig gesagt werden muß, als Bestandteil der Ideologien der herrschenden Klasse zu bekämpfen! Heutzutage kann es passieren, daß man situationistisch inspirierte Bücher zu lesen bekommt, etwa "Thriving in Chaos", ein Handbuch der Managementrevolution des Businessgurus Tom Peters, worin den jungen Avantgardisten unter den Kapitalisten "Rezepte für eine Welt im Umbruch" verordnet werden, Rezepte wie "Seid Internationalisten!" "Schafft Einmaligkeit!", "Setzt selbstverwaltete Teams ein!", "Beherrscht das Paradox!", Schlagt die Linie der "horizontalen" Verwaltung ein und eliminiert die Bürokratie!" "Bewertet alles auf der Grundlage eurer Leidenschaft für die Veränderung!", etc. Oder Artikel liest, wie jenen des Journalisten von "La Repubblica", Curzio Maltese, der einen längeren Sermon durch die Behauptung abschließt, das von Fabio Fazio moderierte Schlagerfestival von Sanremo "kann man besser und mit mehr Berechtigung durch die modernen Kommunikationstheorien erklären. Sicherlich ist das alles bereits vor dreissig Jahren von Guy Debord vorhergesehen worden, dem ersten und größten Theoretiker der Gesellschaft des Spektakels." And so on!
Der "Situationismus"?...nunmehr Stoff für Kommunikationswissenschaftler mit wirren Postpunk - und Avantgardeposen, die das "no future" durch Karriereziele ersetzt haben ... und nicht zuletzt ein deprimierender, langweiliger und somit konterrevolutionärer Gemeinplatz, den man wirklich über hat! Nach 1972 haben diejenigen Revolutionäre und Kreativen, die, ohne sich deshalb von dem Mythos der S.I. betören zu lassen, tatsächlich die "Konstruktion von Situationen" betrieben haben, sich entweder zurückgezogen ("wir werden umso obskurer sein", sagten Debord und Sanguinetti; s. S.99), als sie beizeiten merkten, was geschehen war, oder sie haben verstanden, daß die einzige Weise, die wesentlichen Grundlagen am Leben zu halten, ein kritischer, zweckentfremdender Ansatz war. Es werden diejenigen sein, die dann auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichem Erfolg versuchen, die situationistische Theorie zu erneuern und zu überwinden - ein beinahe immer randständiges Erbe radikaler Kultur und revolutionärer Erfahrungen, zudem außerhalb kleiner Zirkel unbekannt, das heute hingegen wieder für die Bewegung zu entdecken wäre (falls es eine Bewegung gibt, die noch revolutionäre Texte liest), weil es allerdings ein wirksames Mittel gegen die Krankheit der Unterwanderung durch äußerst extreme postmoderne Ideologien ist.6) Doch in erster Linie, um künftig in einer "Zeitschrift der alltäglichen Bewegung"7) nicht länger zum x-ten Mal einen Artikel über die "mythischen Ursprünge der S.I." in der Art der zigtausend Ergüsse über die Besäufnisse-der-in-der-Kneipe-versammelten-Situationisten lesen zu müssen, die seit Jahren die unbedeutendsten Zeitschriften füllen.
Luther Blissett (Römische Psychogeographische Assoziation)
aus: infoxoa-zona di quotidiano movimento 010; Rom, Oktober 1999.
ins Deutsche übersetzt von Rudi Brunnenmeier (Psychogeografische Einheit München-Giesing-Sendling-Thalkirchen)
Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf die 1973 von der Projektgruppe Gegengesellschaft erstellte deutsche Ausgabe der "Wirklichen Spaltung".
Anmerkungen:
1) 1872 gelangte Marx zu der Schlußfolgerung, daß die Internationale ihre Aufgabe erfüllt habe. Entweder, weil die auf die Pariser Kommune allenthalben erfolgte Repression die Aktivitäten äußerst schwierig gestaltet hatte, oder wegen der Spannungen, die nach den Auseinandersetzungen zwischen dem Generalrat und Bakunins Internationaler Allianz der Demokratischen Sozialisten innerhalb der Internationale auftraten, oder aber, da er nun den Zeitpunkt für gekommen sah, die politische Partei des Proletariats aufzubauen und sehr wohl wußte, daß das Proletariat in der Internationale, mit Ausnahme Deutschlands, auf Grund des anarchistischen Einflusses (besonders in Spanien, Italien und der Schweiz) von diesem Projekt nicht gerade begeistert zu sein schien. Marx begann damals, als "vertrauliches Zirkular", "Die Angeblichen Spaltungen in der Internationale" zu verschicken, ein radikal gegen die Bakunisten gerichtetes Dokument, zum größten Teil ein Werk von Engels, das bald zum Ausschluß der Anarchisten und folglich zur Spaltung der internationalen Arbeiterbewegung führen sollte.
So wie die Arbeiterinternationale in Bakunisten und Marxisten, war die Gefolgschaft der S.I., wenn auch bestimmt in bescheidenerem Maße, in Debordianer und Vaneigemisten gespalten, oder besser gesagt, in "revolutionäre Situationisten" und in "Prositus".
2) Henri Lefebvre ist der marxistische Theoretiker, der Ende der vierziger Jahre als erster die kapitalistische Gesellschaft als "Konsumgesellschaft" bezeichnet hat. In seiner Jugend war er mit Tzara und den Surrealisten, insbesondere mit Eluard befreundet. 1928 war er eines der Gründungsmitglieder der KPF, aus der er 1958 unter der Anklage des Revisionismus geschaßt wurde - er war Nietzscheaner und vertrat antistalinistische Ansichten. Mit seinem 1947 erschienenen Buch "Die Kritik des Alltagslebens" übte er einen wesentlichen Einfluß aus - zuerst auf die postsurrealistische Künstlergruppe CoBrA und später auf die S.I. In der Zeit seiner Freundschaft mit Michèle Bernstein und Guy Debord führte er zudem einige seiner Studenten, darunter Vaneigem, in die Situationistengruppe ein. Lefebvre lehrte Soziologie an der Universität von Nanterre. (Siehe auch sein 1991 von dem ehemaligen Situ Donald Nicholson-Smith ins Englische übertragene Buch "The Production of Space", das 1974 in Frankreich erschienen ist und in gewisser Weise eine Fortschreibung des situationistischen Projekts darstellt. Lefebvre starb 1994. Anm.d.Ü.)
3) In Wahrheit sind wir davon überzeugt, daß die Grenze zwischen den revolutionären Situationisten, oder "der proletarischen Autonomie im ersten Stadium ihrer Behauptung (Debord, Über die Dekomposition unserer Feinde)" und den Prositus wohl sehr labil, doch auf ihre Weise begründet war. Die Trennungsgröße zwischen den einen und den anderen war einzig an der verhältnismäßigen Nähe zum Umgang Debords abzulesen. Etwas, das eher an die Auserwählten einer Freimaurersekte erinnern läßt (worauf übrigens der englische Neoist Stewart Home wiederholt hingewiesen hat), als an die "proletarische Autonomie"! Niemand sollte uns diese Selbstverständlichkeit verübeln!
4) Innerhalb des Comitato Unitario di Base bei Pirelli haben sich, kurz nach dessen Entstehung, unlösbare Konflikte zwischen der bürokratischen Richtung von Avanguardia Operaia und derjenigen, die Potere Operaio nahestand, ergeben. Diese Konflikte führten 1970 zur Spaltung Es ist bekannt, daß sich der Flügel der Potop-Symphatisanten darauf der Assemblea Autonoma anschloß, und daß einige ihrer Vertreter zu den Brigate Rosse übergingen (die BR "entstanden in Mailand, bei Pirelli", daran haben die Brigadisten häufig erinnert). Hingegen war der Umstand bis heute scheinbar ein "Staatsgeheimnis", daß 1968 einige Genossen des CUB, von der Potop-Richtung, eine informelle rätekommunistische Gruppe gebildet haben, Communismo dei Consigli, die es unternahm, die zu diesem Zeitpunkt radikalsten und innovativsten Theorien zu entwickeln, und daß einige Genossen aus dieser Gruppe, die am stärksten mit der Praxis der "Studentenmacht" (die Prositu-Zeitschrift "S") verbunden waren, die italienische Sektion der Situationistischen Internationale ins Leben gerufen haben! Die Lega degli Operai e degli Studenti di Genova hingegen entstand 1968 aus der Auflösung des Circolo Rosa Luxemburg von G.Faina (ehemals bei den Quaderni Rossi), nach der allmählichen Abwendung eines beträchtlichen Teils der Arbeiterkomponente, im darauffolgenden Jahr trat sie den Ludd-Consigli Operai bei, einem Verbindungsglied zwischen den operaistischen Gruppen verschiedener Städte - darunter auch Communismo dei Consigli - in dem vorwiegend zwei ideologische Komponenten zum Ausdruck kamen: Eine rätekommunistische (also antileninistische, die auf einem höheren Niveau die deutsch-holländische Räteströmung aus den zwanziger Jahren, die theoretischen Arbeiten der französischen Zeitschrift "Socialisme ou Barbarie" sowie einige Aspekte der Theorie von Armando Bordigha wieder aufnahm und weiter verarbeitete), sowie eine von der Situationistischen Internationale beeinflußte (die Komponente von Riccardo D'Este, Eddie Ginosa und Giorgio Cesarano). Es ist von Interesse, zu erwähnen, daß sich unter den absolut ersten, die nach dem Massaker von der Piazza Fontana die Herkunft und Ziele des Anschlags verstanden und denunzierten, ebenjene Ludd- Consigli Proletari mit dem Flugblatt "Bomben, Blut und Kapital" befanden, sowie die italienische S.I. mit dem Flugblatt "Brennt der Reichstag ?, ein sofortiges Verstehen der Ereignisse, das zudem zu einer sehr unnachgiebigen Kritik des Terrorismus als einer spektakulären Reaktion der Genossen, die vom Spektakel selbst so gewollt und provoziert wurde, führen sollte - und dies zu einem Zeitpunkt als der Terrorismus noch keineswegs ein tatsächlich dramatisches und spektakuläres Niveau erreicht hatte! (Die Mailänder Anarchisten der Ponte della Ghisolfa würden dieser Darstellung etwas widersprechen, prägten sie doch in ihrer Pressekonferenz nach dem Fenstersturz ihres Genossen Pinelli aus dem vierten Stock des Mailänder Polizeipräsidiums damals als erste die Vokabel "Staatsmassaker" hinsichtlich des blutigen Anschlags auf die Mailänder Landwirtschaftsbank. Nachzulesen in Bomben und Geheimnisse, Luciano Lanza, Ed. Nautilus 1999. Anm.d.Ü.)
5) Carlo Freccero war der ehemalige Chef von Berlusconis (Fininvest) Fernsehsender Italia Uno. Antonio Ricci ist Redakteur des satirischen Nachrichtenmagazins Striscia La Notizia im Canale 5 (Fininvest) und Enrico Ghezzi ist u.a. Redakteur des Magazins Blob bei RaiTre, das ebenfalls Nachrichtensendungen und Shows der italienischen Fernsehkanäle in einer Art cut-up oder détournement zweckentfremdend aufbereitet. Anm.d.Ü.
6) jüngste Spuren dieses radikalen Kulturerbes deuten sich an in den Aktivitäten der Neoist Alliance, des Projekts Luther Blissett, des Nucleo Informale Potlatch, der Autonomen A.F.R.I.K.A. Gruppe, der Associazione degli Astronauti Autonomi, der Associazioni Psicogeografiche, der Ufologia Radicale etc.
7) damit ist wohl das römische infoxoa gemeint, das diesen Text auch abgedruckt hat. Anm.d.Ü.